Couchgemauschel: Interview Freie Liebe

Für den heutigen Podcast habe ich mit Andi Wolfrum und Jessica Bomball über das Thema „Freie Liebe“ gesprochen. Jessica und Andi leben in Tamera, einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft im Alentejo (Portugal). Ich freue mich sehr, dass diese beiden wunderbaren Menschen heute meine Gäste sind.

Danijela: Vielleicht könnt Ihr mir kurz sagen, welche Art von Gemeinschaft Tamera ist – sicher kennen den Ort nicht alle.

Andi: Ich bin ein langjähriger Freund von Danijela und lebe seit zirka zehn Jahren in Tamera. Das ist eine Gemeinschaft in Südportugal mit ungefähr 180 Bewohnern.

Wir sind also keine Kleingemeinschaft, wenngleich es deutlich größere Gemeinschaften dieser Art gibt. Wir kennen uns alle persönlich, haben aber auch größere Strukturen wie eine Schule, ein Ausbildungszentrum oder eine Bäckerei. Wir beschäftigen uns mit vielen verschiedenen Themen, z.B. Energie, der Art wie Kinder aufwachsen und auch mit Autonomie. Letztere bedeutet unter anderem, dass wir unsere Nahrungsmittel selbst anbauen oder mit Anbietern aus der Region kooperieren. Es ist uns wichtig, aus dem globalisierten System auszusteigen.

Darüber hinaus beschäftigt uns die Frage, wie wir wieder stärker mit Mutter Erde in Verbindung kommen – mit der Natur, aber auch im zwischenmenschlichen Sinne. Tamera ist ein Friedensforschungsprojekt.

Jessica: Der Aspekt „Forschungsprojekt“ ist mir sehr wichtig. Es geht nicht nur darum, in einer Gemeinschaft mit anderen zu leben, sondern die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, eine Vision. Wir verstehen unser Zusammenleben als Projekt, wir sind am Forschen und niemals „fertig“ damit.

Danijela: Das bedeutet die Gemeinschaft basiert auf einer Forschung, die hauptsächlich im Inneren, aber auch im Äußeren stattfindet?

Andi: Genau. Die Gründer Dieter Duhm, Sabine Lichtenfels und Charly Reiner Ehrenpreis begannen bereits 1978 mit ihrer Arbeit, damals in Süddeutschland. Sie waren geprägt von der abflauenden 68-er Bewegung und den Protesten gegen den Vietnam-Krieg. Bald merkten sie, dass unter den Aktivisten dieselben Strukturen von Angst, Macht und Eifersucht gab, gegen die sie sich im Außen richteten. Und sie fingen an sich mit Liebe, Sexualität und dergleichen zu beschäftigen – alles Dinge, die sich eher im Privaten zeigen. Dieter Duhm war sich bewusst, dass diese privaten Dinge eine politische Dimension haben, weil sie menschliche Sehnsüchte widerspiegeln. Er war der Meinung, dass man diese Sehnsüchte in einen sozialen Rahmen stellen muss, damit sie nicht mehr nur im intimen Raum vor sich hin schwelen. Ihn interessierte vor allem die Frage, wie Frieden möglich ist. 

Danijela: Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels meinten also, wenn zwischenmenschliche Beziehungen transformiert werden, ist auch Frieden auf der Welt möglich?

Jessica: Ja, so könnte man das sagen. Dieter Duhm geht davon aus: Wenn es keinen Krieg mehr zwischen den Geschlechtern und in Liebesbeziehungen gibt, dann gibt es ihn auch nicht im Außen. Denn alle äußeren Strukturen finden sich in unserem Inneren wieder, so tragen wir zum Beispiel den Kapitalismus in uns. In der Forschung, im Kontakt miteinander und mit den Tools, die uns zur Verfügung stehen, versuchen wir Veränderung anzustoßen.

Danijela: Solange es also kein Bewusstsein über unsere Beziehungen gibt, schwingen wir auf alten Strukturen, genau genommen denen des „Nicht-Friedens“?

 Jessica. Ja, so sehe ich das. Wenn kein Bewusstsein da ist, wiederholen wir alte Muster und Strukturen – weil wir so konditioniert wurden.

Danijela: Was ist für euch der große Unterscheid in der Art wie Ihr Beziehung führt zu dem, wie diese herkömmlich gelebt werden?

 Andi: Ich kann da tatsächlich nur für mich sprechen, ich versuche stets aufs Neue, mich an diese heißen Themen heranzutasten. Es gibt sicher kein allgemein gültiges Rezept und wir versuchen, undogmatisch zu bleiben. Jessica und ich leben seit fast sechs Jahren in einer Liebesbeziehung. Wir lernen sehr viel voneinander.

Jessica: Wir sagen gerne: Wir sind Forschungspartner in der Liebe, wir versuchen miteinander, Liebe zu lernen.

Andi: Freie Liebe bedeutet für uns: Liebe frei von Angst. Denn Verlustangst ist – bewusst oder unbewusst – eigentlich immer vorhanden.

Danijela: Glaubt Ihr, dass Verlustangst die Triebfeder Nummer 1 in Beziehungen ist? Oder anders formuliert: Die größte Ursache für Stress oder auch ein „sich persönlich verbiegen“?

 Jessica: Ich glaube – und das meinte ich vorher im Zusammenhang mit freier Liebe -, dass wir bestimmte Vorstellungen von Liebe haben und damit Erwartungen verknüpfen. Und wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, kommt es zu Konflikten. Wir fühlen uns dann im Recht.

 Andi: Gehen wir einmal davon aus, dass ich jemanden kennenlerne und mich verliebe. Damit wird eine tiefe Sehnsucht getroffen. Und wenn mein Gegenüber dann andere Vorstellungen hat – zum Beispiel auch mit anderen Menschen zusammen sein will – habe ich das Gefühl, etwas von dieser Liebe zu verlieren. Das ist eine sehr tiefgehende Konditionierung, nicht nur individuell, sondern auch systemisch.

Ich lerne dann nicht mein Gegenüber zu lieben, sondern die Situation so zu gestalten, dass es mir nicht wehtut und für mich passt. Wenn ich das so fortführe, muss ich mich nicht mit meinen Ängsten auseinandersetzen und vermeide Schmerzpunkte.

Danijela: In Tamera werden also Konzepte von freier Liebe gelebt?

 Jessica: An der Stelle ist es mir wichtig zu sagen: Es geht nicht darum, dass jeder mit jedem eine Beziehung hat – das dachte ich noch, bevor ich nach Tamera kam und fühlte mich fast unter Druck – sondern dass jedes Modell dorthin passt. Monogamie oder Polyamorie, alles ist in Ordnung, solange die Liebe zwischen den Partner frei von Angst ist. Wir dürfen miteinander forschen und erfahren, was unsere Liebe frei macht. Eventuell bin ich erstmal allein mit einem Partner und hole mir dazu Rückmeldung aus der Gemeinschaft.

Ich kenne zum Beispiel ein Paar, dass aus der Gemeinschaft rückgemeldet bekam, erstmal für eine Weile monogam zu leben. Und das haben die beiden dann realisiert.

Darüber hinaus gibt es bei uns auch Liebesnetzwerke. Dabei gefällt mir der Ausdruck von Dieter Duhm besonders gut: „Die ganze Welt ist eine Liebesaffäre.“

Ich für mich habe das Gefühl, dass ich immer stärker ein Liebesnetzwerk bilde – mit der gesamten Gemeinschaft. Und jeder Mensch, mit dem ich in Kontakt bin, hat eine andere Position in meinem Leben.

 Andi: Mir ist stets aufs Neue wichtig zu betonen: In Tamera geht es im Grunde nicht um das Leben in einer Hippie-Kommune, sondern um einen politischen Kontext. Ich beschreite einen spirituellen Weg, bei dem ich für mich herausfinde:

Wie liebe ich unter Menschen?

Die Gemeinschaft ist dabei sehr zentral. Ich forsche beständig zu der Frage: Wie werden Beziehungen wieder heil? Die zu anderen Menschen, aber auch zu Tieren und der Natur? Tamera heißt deswegen auch Heilungsbiotop.

Natürlich machen wir dabei viele Fehler oder vermeintliche Fehler. Niemand ist perfekt. Ganz essenziell ist für mich persönlich die Anteilnahme am anderen. Über die Anteilnahme lernen wir in der Gemeinschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen Vertrauen.

Dieses Vertrauen als Basis der kompletten Gemeinschaft ist für uns ein politisches Kulturmodell. Wir wollen eine Gesellschaft aufbauen, die nicht auf Misstrauen, Eifersucht, Angst oder Wettbewerb basiert, sondern auf Akzeptanz und Anteilnahme.

Danijela: Glaubt Ihr, dass dieses Modell Beziehung zu leben auf Menschen im urbanen Kontext übertragbar ist? Zum Beispiel auf Zweier-Beziehungen, aber auch auf die mit mehreren Menschen in einem Lebensraum?

 Andi: Für uns ist der Gemeinschaftsbegriff für alle Gruppen denkbar, in denen Menschen gemeinsam etwas vorhaben. Ich bin überzeugt, dass das Wesen von Gemeinschaft als solcher tief in unseren Genen verankert ist. Schon allein menschheitsgeschichtlich, wenn wir bedenken, dass Industrialisierung und Urbanisierung gerade einmal 200 Jahre alt sind.

In Gemeinschaft zu leben, entspricht einer tiefen Sehnsucht des Menschen.

Gemeinschaft ist also schon dann vorhanden, wenn zwei bis drei Menschen diesen Weg miteinander gehen wollen. Das endet nicht an den Grenzen einer Familie oder denen von Tamera.

Danijela: Wie lebt Ihr denn vor Ort? Bewohnen Familien zum Beispiel einen gemeinsamen Lebensraum?

 Andi: Ich zum Beispiel lebe aktuell mit einem Mann zusammen in einem Männerplatz, verbringe aber auch intensive Phasen mit Jessica. All das gestaltet sich flexibel und ist auch abhängig von der momentanen Lebensphase.

Jessica: Dann gibt es noch Gemeinschaftshäuser, Wohnwägen oder Jurten. Die Formen des Zusammenlebens sind vielfältig.

Danijela: Man zeigt sich in der Zweierbeziehung also sehr offen und ehrlich. Werden die damit einhergehenden Prozesse in der Gruppe behandelt?

 Jessica: Oft ist es doch so, dass wir in der Auseinandersetzung mit unserem Gegenüber in eine Art Ping-Pong geraten, etwa in eine Form der Verteidigungshaltung. Dann ist die Gemeinschaft ein sehr großes Geschenk.

Nehmen wir zum Beispiel das Forum: Da sitzen viele Menschen zusammen, ein einzelner geht in die Mitte und offenbart sich – entweder auf energetischer Ebene oder er lässt Sachen einfach raus. In der Gruppe macht er dann die Erfahrung, dass „gesehen werden“ auch „geliebt werden“ bedeutet.

Wenn jemand in der Mitte das für ihn „Schrecklichste“ offenbart, spüren wir eine besonders starke Herzöffnung und Liebe.

Oder wir erleben, dass wir selbst im Zirkel immer wieder mit denselben Themen konfrontiert sind. Durch die anderen, die unser Erleben spiegeln, müssen wir uns nicht mehr ständig für unsere psychischen Strukturen verurteilen.

Danijela: Gibt es denn Menschen, die gar nicht mit Eifersucht konfrontiert sind?

 Andi: Ich kenne ein paar wenige, die eine solch gute und tiefe Verbindung zu sich selbst haben, dass sie damit kein Thema haben.

Danijela: Und können diese Menschen trotzdem echte Nähe zulassen? Häufig sind Menschen auch dann nicht eifersüchtig, wenn sie gar nicht richtig in Beziehung gehen können oder wollen …

 Andi: Ich für mich habe gemerkt, dass Eifersucht vor allem dann aufkommt, wenn unterdrückte Sehnsüchte in mir am Wirken sind. Oder wenn ich mich mit jemanden vergleiche, der ich aber gar nicht bin.

Jessica: Eifersucht gehört nicht zur Liebe, auch wenn uns das früher so eingebläut wurde.

Wenn ich das begriffen habe, kann ich mir anschauen, um was es eigentlich geht: Welche Angst liegt eigentlich unter dem Gefühl der Eifersucht, welche Verlustangst beherrscht mich? Was lebe ich gerade nicht, was der andere, den ich beneide, (scheinbar) hat?

Danijela: Das hat auch viel mit den ungenährten inneren Kindern zu tun. Diese Anteile sehen: Der andere hat das, was ich auch schon immer haben wollte …

 Andi: In unseren Foren oder anderen Formen der Zusammenkunft setzen wir uns mit diesen ungewünschten Gefühlen auseinander. Die Eifersucht einfach wegzuschieben, kann nämlich nicht die Lösung sein.

In der Präsentation dieser unerwünschten Gefühle zeigen wir uns verletzlich und verwundbar, was in kapitalistischen Systemen sonst nirgends möglich ist – höchstens im therapeutischen Setting. Die Kernbotschaft ist: „Du bist Mensch und es ist in Ordnung, unvollkommen zu sein. Wir lieben dich da, wo du dich selbst noch nicht lieben kannst.“

Wir brauchen die gegenseitige Unterstützung, um uns selbst transformieren zu können.

Eines ist mir dabei wichtig: Ich möchte nicht jedem unbesehen raten, in freier Liebe zu leben. Es ist zwar wichtig zu forschen, wir müssen dabei aber wissen, dass der Schuss auch nach hinten losgehen kann.

Wir brauchen ein nährendes Umfeld und behutsame Unterstützung durch die anderen. Die Wahrheit kann nicht brachial aus den alten Strukturen „herausgebrochen“ werden. Wenn wir das nicht beachten, wirken solche Erfahrungen retraumatisierend.

Wichtig ist: Wir dürfen selbst entscheiden, wie wir den Kontakt zu einem anderen Menschen gestalten wollen. Dabei folgen wir nicht einem bestimmten Programm, sondern entscheiden uns immer wieder neu.

Danijela: In welchem Forum oder Kreis seid Ihr beide aktiv?

Jessica: Wir sind einmal wöchentlich gemeinsam in einem Forum. Es kann aber auch genauso wichtig sein, sich separat mit Beziehungsthemen auseinanderzusetzen. So habe ich bereits erfahren, dass ich ohne Andi in ein Forum ging, mich dort über ihn oder unsere Beziehung“ auskotzte“ und es mir danach deutlich besser ging.

Danijela: Lassen sich manche Dinge in Rollenspielen lösen?

 Jessica: Das gibt es auch, so wurde Andi zum Beispiel schon einmal symbolisch in einem Forum „erschossen“. Es kommt immer darauf an, wer ein solches Forum leitet, wer dasitzt und welche Lebenserfahrung derjenige hat.

Andi: Es gibt Formate, da geht es nur um die individuellen Prägungen eines Individuums und seine persönliche Auseinandersetzung damit. Andere wiederum sind mehr zur Kommunikation zwischen den Teilnehmerinnen gedacht, die braucht es auch.

Darüber hinaus ist mir ein weiterer Aspekt sehr wichtig: die Sicht auf Sexualität und Eros an sich. Als ich Tamera kennenlernte und mich immer mehr mit der dortigen Sicht auf das Leben beschäftigte beziehungsweise in die Philosophie einstieg, wurde mir bewusst: Eros ist Lebenskraft, eine Liebeskraft des Körpers, etwas universell lebensschaffendes. Oder anders ausgedrückt: Eine biologische Zusammenführung von Attraktion. Und vor allem ist die Sehnsucht nach Eros unheimlich stark, bei allen Menschen.

Gesellschaftlich sind wir da in einem Zwiespalt: Auf der einen Seite sind wir durch Werbung und Medien übersexualisiert, auf der anderen Seite sind viele Dinge nicht erlaubt.

Danijela: Man darf vor allem nur den eigenen Partner toll finden, sonst wird sofort unterstellt, in der Beziehung würde etwas schieflaufen …

 Andi: Genau. Und auch da begeben wir uns in Forschung, unter anderem zu der Frage: Was bedeutet eigentlich meine sexuelle Wahrheit? Welche Sehnsüchte habe ich? Welche Fantasien prägen mein Empfinden – ohne dass sie bereits pervertiert sind? Perversionen entstehen für mein Dafürhalten, wenn wir den Bezug zur gesunden Sexualität früh verloren haben.

Das heißt nicht, immer alles sofort und mit jedem ausleben zu müssen. Vielmehr nähern wir uns einzeln und als Liebespaar authentisch zentralen Fragen an: Wobei empfindest du Scham oder Schuldgefühle? Oder wann bist du schüchtern?

Auch der Körper mit seiner eigenen Weisheit spielt in diesem Forschungsprozess eine entscheidende Rolle.

Danijela: Hängen Partnerschaft/Liebesbeziehungen für Euch mit Sexualität zusammen oder sind die beiden Aspekte trennbar?

 Jessica: Beziehungen unterliegen der ständigen Veränderung. Andi kann da sicher einiges beisteuern, weil er in zwei intimen Beziehungen lebt.

Auch ich selbst befinde mich in der Forschung. Kurz bevor ich 2017 nach Tamera kam, ist mein Partner ganz plötzlich nach 13-jähriger Bindung verstorben. Dass ich dann Andi kennenlernte, war für mich ein Geschenk des Universums, weil es mir zeigte: Da ist weiterhin Liebe für dich.

Ich lebe nun mit meinem verstorbenen Partner – wenn auch nicht mehr auf der körperlichen Ebene – und mit Andi. Andi ist mein intensivster Trainingspartner. Wir lernen beide gemeinsam wahnsinnig viel mit- und voneinander: Nämlich was es heißt, frei zu lieben. Wir sind uns in vielen Dingen sehr ähnlich.

Manchmal wünsche ich mir einen weiteren Partner an meiner Seite, frage mich dann aber gleichzeitig: Ist es „nur“ der Vergleich, der mich reizt? Ist es die Tatsache, dass Andi seit 19 Jahren zusätzlich mit einer weiteren Frau (Marie-Lou) zusammen ist und mit dieser auch ein Kind hat?

Aber ich mache zugleich die Erfahrung, dass das Zusammensein mit dem Kind der beiden – Neo ist jetzt 12 Jahre alt und ich verbringe einmal in der Woche intensive Zeit mit ihm, damit Andi und Marie-Lou wiederum Paarzeit haben können – mich sehr bereichert. Und ich spüre, dass Andi das Zusammensein mit Marie-Lou guttut. Von letzterem profitiere dann wiederum ich.

 Danijela: Welche Qualität ermöglicht es dir, den beiden ihr Zusammensein zu gönnen?

 Jessica: Bei Marie-Lou habe ich nie wirklich Eifersucht empfunden. Das liegt sicher auch daran, dass sie mir nie das Gefühl gegeben hat, nicht „erlaubt“ zu sein. Im Gegenteil: Gerade in der Dreierkonstellation habe ich viele Heilungsmomente erlebt. So hat sich Marie-Lou sogar einmal dafür bedankt, dass ich in Andis Leben bin und ihm guttue. Das hat mich sehr beeindruckt.

Andi: Ich glaube, dass Jessica und Marie-Lou in sehr vielen Dingen sehr ähneln. Da ist eine grundlegendes „Ja zu Leben“ und ein „dem anderen sein Glück von Herzen gönnen“ – trotz aller naturgemäß vorhandenen Ängste.

Danijela: Das heißt: Ihr könnte es innerlich aushalten, einander widersprechende Gefühle zu haben.

 Jessica: Und wir üben, Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Wenn es mich zum Beispiel doch einmal stören sollte, dass Andi und Marie-Lou gerade zusammen sind und ich allein bin, bleibe ich bei mir und setze mich mit meinen Bedürfnissen auseinander. Und suche die Schuld für mein aktuelles mangelndes Wohlgefühl nicht bei den anderen.

Der eigentliche Lernprozess ist, meine eigene innere Stimme von Prägungen und Konditionierungen unterscheiden zu lernen und ihr zu vertrauen. Dabei hilft die Gemeinschaft ungemein.

Danijela: Hat der eigene Partner dann manchmal auch die Funktion eines Therapeuten?

 Andi: Ich würde sagen: Wenn man gemeinsam verbindlich den Weg der Liebe geht, therapiert man sich permanent gegenseitig.

Und da schließt sich für mich erneut der Kreis: Hätten wir die Liebe als geltende Ethik in unserer Gesellschaft verankert, wäre sie eine andere.

Ich frage mich oft: „Was dient der Liebe?“

Danijela: Im Grunde beschreibst du damit also den nächsten evolutionären Schritt der Gesellschaft. Das Weg vom „Ich“, das ständig haben will, zum größeren Ganzen. Gerade im europäischen Raum scheint ein stärkeres Denken im „Wir“ längst überfällig.

Andi: Wir stehen auch als Menschheit vor einer riesigen Herausforderung. Kriege und Klimakrise sind nur ein Beispiel. Wir werden nicht umhinkommen, uns zu vergeben und aus dem jahrhundertealten (vielleicht auch schon tausende von Jahren währenden) patriarchalen Trauma auszusteigen. Dies muss ein globales Ziel werden. Wir haben keine andere Wahl als ein anderes Wir-Gefühl zu entwickeln, man könnte auch sagen: die individuelle Kraft in ein Wir-Gefühl zu transformieren.

Danijela: Und das beste Übungsfeld dafür sind die eigenen Beziehungen.

 Andi: Genau. Für mich ist das beste Übungsfeld meine eigene Sexualität. Es ist der Bereich in meinem Leben, in dem ich die meisten Ängste habe.

Jessica und ich leben nicht monogam, wir haben mehrere Geliebte – manche regelmäßig, andere eher in Form von Abenteuern. Wir versuchen uns gegenseitig in unserer sexuellen Wahrheit zu unterstützen. Dies kann bedeuten: „Selbst, wenn ich gerade eifersüchtig bin, möchte ich nicht, dass du etwas tust, nur aus der Angst heraus, mich zu verlieren.“ Im Gegenteil: Wir versuchen den jeweils anderen dabei zu unterstützen, in seine erotische Kraft zu kommen.

Danijela: Auch dann, wenn für einen selbst dann weniger übrigbleibt?

 Andi: Interessanterweise verhält es sich so: Je mehr jeder von uns seinen Weg frei gehen kann, desto mehr ist für uns beide übrig. Man könnte auch sagen: „Desto mehr wollen wir einander.“ Da wir beide hocherotische Wesen sind, würde ein exklusiver Ausschluss gar nicht funktionieren.

Und trotzdem werde ich an dieser Stelle mit meinen tiefsten Ängsten konfrontiert: Wer bin ich als Mann, wenn meine Partnerin erotisch unabhängig ist? Das hat sehr viel mit unserer langjährigen Sozialisierung zu tun. Sexualität ist seit vielen Jahrhunderten an den Rahmen der Zweier-Beziehung, in der Regel der Ehe, gebunden. Alles, was darüber hinausgeht, ist gesellschaftlich verpönt oder wird an den Rand gedrängt, so zum Beispiel in die Prostitution.

Sexualität hat nach meiner Auffassung eine tiefe Wunde und wird nicht mehr als das betrachtet, was sie von ihrem Wesen her eigentlich ist: Eros als freie, lebensschaffende, anarchistische Kraft.

Die sexuelle Kraft wird kleiner gemacht als sie eigentlich ist: in die Ehe gestopft oder pervertiert.

Über die Transformation dieser „Fehlleitung“ lässt sich sehr vieles lösen – aber wir werden dabei unweigerlich mit vielen Ängsten und Schmerzpunkten konfrontiert.

Jesica: Dabei entsteht in mir innerlich das Bild: Wir alle sind aus dem Akt der Liebe entstanden. Warum ist etwas so tief Heiliges wie die Sexualität zugleich unsere tiefste Wunde?

Andi: Die Heilung dieser Wunde ist über viele Wege möglich. Zum Beispiel indem die LGBT-Szene nicht weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird oder über die Wiederverbindung der Geschlechter.

Denn: Wo Trauma zu wirken beginnt, lassen sich Menschen scheiden oder führen Kriege. Unser Weg wäre es, nicht auseinanderzugehen, sondern in Solidarität dranzubleiben und damit die Kette der Gewalt zu durchtrennen.

Danijela: Was sind die größten Verletzungen, die den Menschen auf diesem Weg begegnen?

 Jessica: Ich würde sagen der größte Schmerz ist das mangelnde Vertrauen: in das Leben oder die Liebe. Das Gefühl nicht akzeptiert und nicht geliebt zu werden, so wie ich bin. Darauf läuft am Ende alles hinaus.

Der aktuelle Zeitgeist – Distanzierung und wenig Kontakt mit sich und der Welt – triggern diese alten Verletzungen.

Andi: Das ständige Streben nach immer stärkerer Unabhängigkeit widerspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Verbindung: Zu anderen Menschen, der Tierwelt und der Natur.

Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch seinen individuellen Heilungsweg gehen kann.

Danijela: Ich finde Euren Ansatz sehr beeindruckend: Indem wir (in) Beziehungen heilen, heilen wir auch die Welt. Vielen Dank für diese großartige Inspiration!

Interview Freie Liebe

Im Podcast #080 geht es das Konzept der Freien Liebe.

  • welche Konzepte von „freier Liebe“ in Tamera gelebt werden
  • warum sich die Lebensgemeinschaft als Forschungsprojekt versteht
  • wie wir die Welt über unsere Beziehungen heilen können.
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